Heinz Berggruen
von Olivier Berggruen
Heinz Berggruen, mein Vater, wurde 1914 kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Berlin geboren. Schon in der Kindheit war es sein Wunsch, eine der Kunst gewidmete Laufbahn einzuschlagen. Dieser Vorsatz sollte auf immer seine Existenz verändern: er entdeckte nämlich die europäischen Avantgarden seiner Epoche. Von diesem Leben, das geprägt wurde durch zahlreiche Reisen und die ständig erneute Entdeckung der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, sind die wichtigsten Anhaltspunkte bekannt: die langweilige Kindheit als einziger Sohn, der versucht, sich von einer allzu konventionellen Familie zu befreien, die eher abseits stand von der außergewöhnlichen kulturellen Blüte der Epoche der Zeit - dem Berlin von Max Reinhardt und Bertold Brecht, dem experimentellen Film von F.W. Murnau und G.W. Pabst, der neuen Sachlichkeit der zwanziger Jahre, abseits von einer ganzen Welt, wie sie Alfred Döblin in seinem Romanfresko Berlin Alexanderplatzevoziert. Diese erdrückende Stadt, die ebenso eine Stadt der Bohème war wie eine des Handels und die allzu schnell ins zwanzigste Jahrhundert gelangt war, vermittelte meinem Vater den Sinn dafür, eine Bestimmung zu haben, die der Achtbarkeit seiner assimilierten jüdischen Eltern zuwiderlief. Er brach auf, um in Frankreich Literatur zu studieren, zuerst in Grenoble, dann in Toulouse. Als er einige Jahre später nach Berlin zurückkehrte, stand Deutschland unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Angesichts eines Landes, das die Beute von neuen Dämonen war, die weitaus schlimmer waren als die der Jahre der Weimarer Republik, erkannte er bald, dass es dort für ihn keine Zukunft gab. Da entschied er, sich für ein Stipendium für eine höhere Universitätslaufbahn an der Universität von Berkeley in Kalifornien zu bewerben. Es folgten Jahre der Isolation, der Armut, aber auch erste Begegnungen mit Künstlern. 1939 bot man ihm eine Assistentenstelle bei dem mexikanischen Maler Diego Rivera an, der für die Weltausstellung nach San Francisco gekommen war. Es war für Heinz Berggruen die Gelegenheit, eine Retrospektive der großen gesellschaftsbezogenen Fresken des Malers im San Francisco Museum of Art zu organisieren. Wenig später hatte er eine leidenschaftliche Liaison mit der Ex-Frau von Rivera, Frida Kahlo – eine Liaison, die nach der Ankunft des verarmten und zudem unbeständigen Paares in New York bald endete. Berggruen unternahm erste Schritte als Journalist bei der San Francisco Chronicle, danntrat er in die amerikanische Armee ein und brach nach dem Sieg der alliierten Streitkräfte als Direktor einer neu von den Amerikanern gegründeten Zeitung nach Deutschland auf. Als er erst einmal demobilisiert war, ließ er sich in Paris nieder, wobei er seine beiden kleinen Kinder, John und Helen, die einer ersten Ehe mit einer jungen Erbin aus San Francisco entstammten, in Kalifornien zurückließ.
In Paris fand mein Vater einen Posten bei der UNESCO, aber da die Anforderungen einer allzu schwerfälligen Bürokratie ihm nicht zusagten, streckte er seine Fühler nach dem Milieu des Handels aus und eröffnete eine Kunstgalerie. Sie befand sich an der Place Dauphine – es war ein winziges Gelass, das er in der Folge Simone Signoret und Yves Montant überließ, die es zu ihrer Küche machten. Zu Beginn der fünfziger Jahre hatte die Galerie in der Rue de l’Université 70 die Adresse gefunden, die sie vierzig Jahre lang behalten sollte. Es wurden dort illustrierte Bücher, Radierungen, Zeichnungen und Gemälde angekauft und verkauft, Werke mit kleiner Auflage veröffentlicht und vor allem zahlreiche Ausstellungen veranstaltet. Die meisten waren begleitet von luxuriös aufmachten Broschüren, hergestellt von Jacomet und der Druckerei Union. Anfangs interessierte sich mein Vater für das Werk von Paul Klee, das beim französischen Publikum noch wenig bekannt war, obwohl es von den Surrealisten sehr geschätzt wurde, namentlich seit René Crevel ihm in den dreißiger Jahren einen sehr schönen Text gewidmet hatte. In dieser Epoche machte Heinz Berggruen auch einige entscheidende Bekanntschaften: die mit Paul Eluard, André Pieyre de Mandiargues und vor allem mit Tristan Tzara, der ihn bei Picasso einführte. Auf diese Weise lernte mein Vater sehr schnell das künstlerische Milieu von Paris kennen, das so exzentrische Persönlichkeiten wie Douglas Cooper, der seines Zeichens ein großer britischer Kunstkritiker und Sammler war, Marie-Laure de Nouailles, eine unvergleichliche Mäzenin, oder auch den jungen amerikanischen Schriftsteller James Lord vereinigte, ganz zu schweigen von der surrealistischen Gruppe, die damals noch Aufsehen erregte. Die Ausstellungen der Galerie waren Miró, Chagall, Gonzáles, dem Severini der futuristischen Epoche, Marini, Motherwell, Schwitters, Tapiès, Matisse gewidmet - von letzterem stellte mein Vater kurz vor dessen Tod die erste Ausstellung von Scherenschnitten aus – vor allem aber Picasso.
Aus der Begegnung mit Picasso ergab sich eine Zusammenarbeit, deren Frucht die Veröffentlichung von Werken mit begrenzter Auflage war. Ein Bild besonders symbolisiert den Weg, den mein Vater einschlug: eine Fotografie zeigt ihn hingekauert neben Picasso, während man auf dem Fußboden des Ateliers von Cannes die Probedrucke von Diumes (Tagesszenen) sieht, einem Werk, das den Maler mit dem Dichter Jacques Prévert und dem jungen Fotografen André Villers verbindet. Picasso hatte aus Karton Silhouetten von verspielten Faunen und Tieren vom Bauernhof ausgeschnitten, Geschöpfen, die dank des Lichtes leben, einer Welt, die vom Objektiv des Fotografen erfasst wurde – im Wesentlichen eine Durchdringung durch das Licht – die man in der Sammlung wieder findet, die mein Vater mit einem Begleittext von Prévert veröffentlichte. In der Folge wurden andere Werke und Projekte für Ausstellungen von Picasso ausgewählt. Unter anderem sind die Originallithographien für zwei der Broschüren der Galerie zu nennen, ebenso wie ein illustriertes Buch mit dem Titel 'Dessin en marge de Buffon'.
In manchen privilegierten Fällen decken und überschneiden sich die Aktivitäten des Sammlers und Händlers: der passionierte Sammler verfolgt seine Nachforschungen, um einen Beruf daraus zu machen, während der Händler seine bevorzugten Stücke wie Talismane aufbewahrt. Von Paul Guillaume bis zu Thomas Amman und Eugene V. Thaw könnte man die Genealogie der sammelnden Kunsthändler nachzeichnen (eine Spezies, die dabei ist zu verschwinden angesichts des gegenwärtigen Ansturms von Spekulanten). Oft ergaben sich die großen Sammlungen aus dem Ankauf von bereits bestehenden Sammlungen: es genügt auf den Kauf der Sammlung von zweihundertfünfzehn Bildern des amerikanischen Schauspielers Edward G. Robinson durch Stavros Niarchos hinzuweisen oder auch auf den des Fonds Duveen durch den Kalifornier Norton Simon. Mein Vater hat nicht dieses Glück gehabt. Aber sein Augenmerk hat sich immer vorzugsweise auf Objekte gerichtet, die gutunterrichteten Sammlern gehörten (wenn man an den Mythos des ästhetisch versierten Sammlers glauben möchte). So hat er die ersten Bilder von Picasso bei Paul Éluard und Alice Toklas oder auch dank der Vermittlung Tristan Tzaras kaufen können.
1959 begegnete mein Vater meiner Mutter Bettina, Tochter des Schauspielers Alexander Moissi, der auf allen großen europäischen Bühnen der Vorkriegszeit gespielt hatte. In ihrer Ehe wurden 1961 mein Bruder Nicolas und zwei Jahre später ich selbst geboren. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Vater schon den Kern seiner Sammlung zusammengestellt. Abgesehen von einigen Werken von Cézanne war es ihm gelungen zwei schöne Studienblätter für die Demoiselles d’Avignon, den Arlequin à la guitare von 1918, sowie le Cheval de cirque (das Zirkuspferd) von Picasso zu kaufen. Er interessierte sich für das gesamte Werk von Picasso, ebenso für die Gemälde, die Collagen, die Lithographien und Radierungen wie für die Skulpturen und Keramiken. Seine ästhetische Vision reiht sich in die Ahnenreihe der sammelnden Händler vom Beginn des Jahrhunderts, Wilhelm Uhde und D.H. Kahnweiler, ein. Aber für meinen Vater bleibt die wesentliche Gestalt seiner ästhetischen Lehrjahre die des Kritikers und Sammlers Douglas Cooper (1911-1984), dessen Geschmack im Gegensatz stand zu den etablierten Werten der Ècole de Paris (Bonnard, Vuillard, Rouault, dem Matisse der Epoche von Nizza). Ihr zog er den „authentischen“ Kubismus, den von Braque und Picasso, Léger und Gris, vor, das Alpha und Omega des zwanzigsten Jahrhunderts – er betrachtete den Kubismus nicht als Stil, sondern als Mittel des Ausdrucks einer Künstlergeneration, die ebenso brilliant war, wie diejenige, die das Aufblühen der italienischen Renaissance ermöglicht hatte. Eine derartige Vision, die mit um so mehr Wendigkeit von den Direktoren amerikanischer Museen wie Alfred Barr in New York geteilt wurde, bleibt dennoch anfechtbar, aber sie hat unsere Art, die Moderne zu begreifen, beeinflusst ohne wirklich in Frage gestellt zu werden. Meinem Vater gelang es, von Cooper starke und strenge Werke zu kaufen, ganz nach dem Bild seiner ästhetischen Unerbittlichkeit. In der Folge wurden mit dem Aufsteigen des Kunstmarktes die öffentlichen Versteigerungen ein Ort unverzichtbaren Austausches. Wunderbare Picassos wurden anlässlich der Auflösung der Sammlung Paul Rosenberg in London 1979 gekauft. Beinahe zwanzig Jahre später erwarb mein Vater das Gemälde Grand nu couché (Großer liegender Akt) von 1942 in der Versteigerung der Sammlung Victor und Sally Ganz bei Christie’s in New York.
1984 schenkte mein Vater neunzig Werke von Paul Klee dem Metropolitan Museum, New York. Einige Jahre später wurde eine Ausstellung der Sammlung von Simon de Pury im Musée d’Art et d’Histoire (Museum für Kunst und Geschichte) von Genf organisiert, auf die die Ausstellung eines großen Teiles der Sammlung in der National Gallery von London folgte und schließlich 1996 die Gründung des Museum Berggruen in Berlin. Es ist ebenfalls hinzuweisen auf die Stiftungen an den französischen Staat, der unter anderem dreizehn Bilder von Klee, den Kronleuchter aus Gips der Brüder Giacometti umfasste, der die Galerie in der Rue de l’Université geschmückt hatte, sowie ein Studienblatt fürLes Joueurs de cartes (die Kartenspieler) von Cézanne. Später (und zwar damals, als Ende der 1970er Jahre die Galerie Antoine Mendiharat übergeben wurde), nahm mein Vater seine journalistische Tätigkeit wieder auf, publizierte 1996 seine Erinnerungen ebenso wie mehrere Sammlungen von Artikeln, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen waren. Diese Artikel sind häufig Schilderungen von Begegnungen und Ereignissen, die sein Leben auf verschiedenen Kontinenten geprägt hatten.
Mein Vater gehört zu einer Generation, die die dramatischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts miterlebt hat. Er hat sich voll gesogen mit dem außergewöhnlichen künstlerischen und kulturellen Brodeln dieser Periode von Wirbeln und Infragestellung von herkömmlichen Werten, während die gegenwärtige Welt noch von der Asche der vorhergehenden Epoche lebt. Und sein Blick hat sich auf einen der entscheidenden Augenblicke dieser Epoche gerichtet, die Eroberung der Moderne durch die Künstler, die zwischen Kubismus und Dadaismus gelebt haben. Das bleibt ein Glanzpunkt, der durch die Arbeit von Picasso und seinen Zeitgenossen ein für allemal fixiert ist.
Übersetzung aus dem Französischen von Dr. Una Pfau
Erstabdruck: Picasso/Berggruen. Une collection particulière, Paris, Musée National Picasso, 20 Sept. 2006 – 8 Jan. 2007
© Èditions de la Réunion des musées nationaux, Paris, 2006
© Flammarion, Paris 2006